“Israelkritik” in den deutschen Medien

Bernhard Clemm
3 min readJan 15, 2021

Kleine datenjournalistische Analyse

Was Antisemitismus angeht, war 2020 das Jahr der Mbembe-Debatte. Gegen Jahresende wurde uns dann nochmal das Treiben von „Boycott, Divestment and Sanction“ (BDS) in Erinnerung gerufen, als die Leiter diverser deutscher Kulturinstitutionen die Rücknahme der BDS-Resolution des Deutschen Bundestags forderten. Was bei diesen Diskussionen niemals fehlt, ist das Gespenst der „Israelkritik“. Der folgende kurze datenjournalistische Beitrag nähert sich der zweifelhaften Karriere, die der Begriff in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat.

Zum Einstieg die Arbeitsdefinition von Antisemitismus der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken (IHRA), 2017 von der Bundesregierung übernommen: “Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.” Offener Antisemitismus ist in Deutschland zwar nicht salonfähig. Wie die Bundeszentrale für Politische Bildung anmerkt, lässt er sich aber über “Umwege gegen Israel fortführen, indem dieser Staat in der antisemitischen Vorstellungswelt als ‚Kollektivjude‘ gesehen wird.” Israelkritik also potentiell ein Deckmantel für Antisemitismus.

Um die Verbreitung des Begriffes in den deutschen Medien zu erkunden, habe ich in der Zeitungsdatenbank Factiva nach den Begriffen „Israelkritik“ und “Israel-Kritik” in den deutschen Medien gesucht (für den gesamten verfügbaren Zeitraum). Im folgenden Graph sieht man die Häufigkeit von Artikeln, in denen der Begriff vorkommt. Dargestellt sind die fünf Medien mit den höchsten Zahlen. Die Verwendung des Begriffes scheint zuzunehmen, wie man am Trend für diese fünf Zeitungen sieht. Das muss nicht heißen, dass die Kritik an sich mehr geworden ist — vielleicht wird einfach mehr über das Phänomen berichtet. Dass die “Welt”, nicht gerade als „israelkritisches“ Medium bekannt, die meisten Nennungen zu verzeichnen hat, spricht teilweise für Letzteres. Die Grafik sollte man also nicht überinterpretieren.

Kann es legitime “Israelkritik” geben? In den Erklärungen zur IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus heißt es: “Eine Manifestation [von Antisemitismus] kann im Abzielen auf Israel als jüdisches Kollektiv bestehen. Allerdings ist Kritik an Israel ähnlich der an jedwedem anderen Staat geübten Kritik nicht als antisemitisch zu sehen” (meine Übersetzung). Kritik an Israel kann nach dieser Definition zunächst legitim sein — wenn sie so auch an einem anderen Staat hätte geäußert werden können. Ein solches kontrafaktisches Urteil ist immer schwer zu treffen. Ein gängiges Kriterium ist der sogenannte “3D-Test”: Wenn eine Kritik Israel dämonisiert, delegitimiert oder doppelte Standards anlegt, dann ist sie antisemitisch.

Wäre Israelkritik also überwiegend nicht antisemitisch, sollte es davon nicht mehr geben als etwa Chinakritik oder Russlandkritik — außer man nähme an, dass Israels Regierungen so viel schlimmer unterwegs sind, dass sie von sich aus auch mehr Anlass zu Kritik bieten. Das wäre mit Blick auf die Gebaren Russlands und Chinas eine schräge Annahme. Wie schon mehrfach beobachtet, lässt allein die Tatsache, dass “Israelkritik” ein gängiger Begriff ist und im Duden steht — im Gegensatz zur “Chinakritik” oder “Russlandkritik” — Zweifel aufkommen, wie oft Kritik an Israel in einem legitimen Rahmen stattfindet. Die Factiva-Daten ergeben ein ähnliches Bild, wie im nächsten Graphen zu sehen ist: Von „Israelkritik“ (diesmal Nennungen aller Zeitungen in Datenbank) ist wesentlich öfter die Rede als von „Russlandkritik“ oder „Chinakritik“. Zu Betonen ist wiederum, dass die gezählten Artikel nicht unbedingt Israelkritik betreiben, sondern eventuell auch nur darüber schreiben.

Data and code for this post can be found here: https://github.com/BernhardClemm/medium-israelkritik

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